Ein kriegsfreies Morgen

Es ist nicht lange her, als ich mir geschworen habe, in meinem Blog unpolitisch zu bleiben. Schließlich gibt es genug Themen, über die man leidenschaftlich diskutieren kann. 

Leider werde ich immer öfter überrollt von einem starken Drang, der aktuellen politischen Situation entgegenzuwirken und auch darüber offen zu sprechen. Manchmal holt mich dieser Drang sogar im Schlaf ein und zwingt mich in den frühmorgendlichen Stunden wach an die Decke zu starren. Meine Gedanken kreisen in diesen Momenten fast immer um das Gleiche: meine unbeschwerte russische Kindheit, meine noch jungen und gesunden Eltern, mein noch lebender Bruder und zuallerletzt doch meine ukrainischen Wurzeln, obwohl ich einen entscheiden Teil meines Lebens in Russland verbracht habe.

Entscheidend, weil prägend und wegweisend. Frühe Kindheit, die naive und unbeschwerte Schulzeit, das Studium. So gesehen hat mein komplettes Erwachsenwerden in Russland stattgefunden. Ich liebte meine Heimat und alles, was dazu gehört, abgöttisch. Diese Zeit liegt nunmehr 35 Jahre zurück. 

Meine Familie in Russland existiert nicht mehr. Nach dem Tod meines Bruders und später der Eltern sind dort nur ein paar Freunde übriggeblieben, meine Klassenkameraden, zu denen ich immer noch Kontakt halte. Der Kontakt wird aber zunehmend komplizierter, weil auch meine Freunde der russischen Propaganda verfallen und durch nichts zu überzeugen sind, dass die Realität anders ist.

Ich verstehe, dass es für alle schwierig ist, sich in der aktuellen Lage zurechtzufinden und eine Position zu beziehen. Manchmal tut das richtig weh.

Gestern sind auf Dnipro neuartige russische Mittelstreckenraketen abgeschossen worden. Die sogenannten Oreschnik-Raketen, mit denen Putin den Westen zum letzten Mal warnen will, dass mit ihm nicht zu spaßen ist. Eine neue Eskalationsstufe? Und weiter? Eine Antwort auf die Erlaubnis Bidens, Russland mit weitreichenden Raketen zu beschießen? 

Wie lange müssen sich alle noch ansehen, dass Dörfer und Städte eingenommen und zerstört werden? Haben denn die Mütter ihre Söhne geboren, damit diese im Kugelhagel sterben?

In Dnipro leben einige meiner Verwandten mütterlicherseits. Sie sind bis dato aus Überzeugung nicht geflüchtet und leisten seinen erdenklichen Anteil zur Hilfe der ukrainischen Armee. Sie nähen Unterwäsche und warme Kleidung, stricken Socken, basteln primitive Verteidigungsmittel. Bei Not ist alles recht, sagen sie und bleiben mutig. Mein Onkel ist dieses Jahr mit 86 in Dnipro verstorben … in einem Krankenhaus, das während er im Sterben lag, beschossen wurde. Man wollte zwar ein Raketenherstellungsbetrieb treffen, in dem mein Onkel im Übrigen bis zu seinem 80 Lebensjahr arbeitete, es hat aber wieder «zufällig» zivile Ziele erwischt. Nachts hat mein Onkel diese Welt verlassen, wie auch der Beschuss das friedliche Städtchen Dnipro. Geblieben sind tiefe Trauer, die sich nicht nur auf den Tod des Onkels bezog, sondern auf die Zukunft Dnipros, die bis dato noch als «ruhig» galt.

Das Traurige ist, dass mein Onkel im bewussten Alter eines halbwüchsigen Knaben schon den zweiten Weltkrieg und die deutsche Okkupation erlebt hatte. Jetzt nun auch diesen Krieg, der vom angeblichen «Bruder» ausgeht. Wie hoffnungslos war für ihn gewesen, die letzten Lebensjahre beobachten zu müssen, was mit seiner Heimat passiert. Durch seinen Tod erfährt er auch nicht mehr, wie das Ganze ausgeht, vor allem für seine Nachfahren.

Was mich zunehmend noch trauriger und machtloser stimmt ist die Tatsache, dass auch Menschen hier in Deutschland sich ebenfalls wenig trauen, ihre Meinung zu äußern. Man hört zwar von Demonstrationen und politischen Aktionen in den Großstädten, die Quintessenz davon ist aber kaum spürbar. Die Politik ist für mich eine Seite des Geschehens, die Meinung des Volks ist jedoch ausschlaggebender und bewegender. Es tut weh auch immer wieder zu hören, dass man die Ukrainehilfe stoppen sollte, weil es einem selbst inzwischen auch schlecht geht. Aber Leute, haben wir über unserem Kopf nicht etwa einen raketenfreien Himmel? Ist das nicht doch das Allerwichtigste auf Erden, friedlich leben zu dürfen? Ich glaube, viele von uns haben das nie analysiert und natürlich noch nie erlebt. Es sei denn, man ist 86 und hört gewaltige Kanonaden immer noch in seinen Träumen.

Wacht auf! Heute geht es um unsere Zukunft und die Zukunft unserer Kinder! Macht euch mobil gegen jede Gewalt, traut euch eigene Meinung ohne an die Folgen zu denken! Stellt euch einmal vor, dass eines Tages ganz Berlin auf die Straßen geht und bestimmend Friedensforderungen äußert. Auch in Großstädten Europas und Amerikas sagen Menschen «Nein» zum Krieg und fordern Aggressoren heraus, ihre Waffen niederzulegen.

Bin ich naiv? Wahrscheinlich. Man hört «Die Kriege gab es schon immer.» Aber wieso? Kann mir jemand erklären, wieso???

Verzeiht mir meine momentane Stimmungstieflage, aber ich musste das jetzt loswerden. Sollte morgen das Ende der Welt eintreten, weil irgendein Putin mit Atomwaffen herumexperimentiert, so habe ich es doch geschafft, meine Gefühle mit euch zu teilen.

Bleibt gesund und unversehrt. Auf ein kriegsfreies Morgen!

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